Kritik:
Die Familie, raunt
der Cineast mit rauher Marlon-Brando-Stimme, ist einzig,
ewig und andauernd, kurz: alles. Noch der blindeste
Filmhasser spürt die Weisheit dieser Worte
spätestens dann, wenn er in den eigenen vier
Wänden seufzend hinnimmt, was er auf der Straße
umgehend verdammen würde: wer hat schon keinen Bruder
im Knast, keine zwanghaft jugendliche Mutter und keinen
Onkel, der früher eine Tante war?
Daß
alle diese Menschen trotzdem jede Liebe verdient haben,
zeigt Wes Andersons Neuer, The Royal Tenenbaums, auf
so bezaubernd vielschichtig-skurrile Weise, daß man
diesen Film auch dann noch mögen muß, wenn es der
obskuren Ideen ab und an gar zu viele werden und man mit
schwirrendem Kopf allen Überblick verliert. Ist in
Le fabuleux destin d'Amélie Poulain, dem
rasanten Kuriositätenkabinettstückchen Jean-Pierre
Jeunets, ja oft auch nicht anders.
Als da zu mögen wären, und Alec Baldwins
lakonische Erzählerstimme stellt die Figuren so
herrlich schnoddrig vor, daß sie auch ohne Bilder so
lebensecht wie liebenswert vor dem geistigen Auge erstehen:
ein blendend aufgelegter Gene Hackman als einmalig
kauzig-verschrobenes Familienoberhaupt Royal Tenenbaum;
Anjelica Huston elegant und würdevoll als arbeitssame
Mutter Ethel; ein wunderbar neurotischer Ben Stiller als
überfürsorgliches Ex-Finanzgenie Chas im schreiend
roten Adidas-Joggingdress; Gwyneth Paltrow so zerbrechlich
wie depressiv als frustrierte Adoptivtochter und
Schriftstellerin Margot; und Luke Wilson als
stoisch-verschlossenes, seine Schwester unerwidert liebendes
Björn-Borg-Imitat Richie. Dazu kommen Luke Wilsons
Bruder Owen als Pseudo-Frauenschwarm, Liebhaber bizarrster
Gemälde und Groschenheftautor Eli Cash, Danny Glover
als Gentleman alter Schule Henry Sherman im blauen Anzug,
Kumar Pallana als schweigsam-gewalttätiger Leibdiener
Pagoda und der unvergleichliche Bill Murray als
dackeltrauriger Psychiater Raleigh St. Clair, und fertig ist
der am erinnerungswürdigsten benannte und harmonierende
und am besten spielende Cast seit langem. Weiter fügen
sich die inspirierten handwerklichen Leistungen des
Kameramanns Robert D. Yeoman und der endlos kreativen und
detailversessenen Ausstattungs- und Kostümcrew sowie
die perfekt ausgesuchten Songs so brillant ins Gesamtbild,
daß The Royal Tenenbaums auch ganz ohne
Drehbuch schon fast seine gesamte Konkurrenz hinter sich
läßt.
Mit dem von
Wes Anderson und Owen Wilson geschriebenen Script aber
plaziert der Film sich, komme was wolle, schon zu den ersten
zarten Strahlen der Frühlingssonne ganz oben auf der
Liste der Jahresbesten. Inmitten einer Kaskade surrealer
Einfälle, warmherziger Scherze, leuchtend origineller
Einzelheiten, treffsicherer Dialoge und herzerfrischender
Szenen verlieren die Autoren nie den Blick für die
allen Figuren zugrundeliegende, tiefe Menschlichkeit, die
sie trotz all ihrer Fehler für den Zuschauer zutiefst
sympathisch, angenehm und lebensnah macht. Ihre
Menschlichkeit ist es auch, die die lange entfremdeten
Charaktere schließlich wieder miteinander
versöhnt und so nicht nur für ein rundum
gelungenes Happy-End und einen wundervoll runden Film sorgt,
sondern auch dem Zuschauer euphorische Hoffnung mitgibt: es
ist nie zu spät. Selbst für den längst
kreativ abgebrannt geglaubten Stechpalmenwald - und das will
was heißen!
1/2 von 5 Sternen.
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