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Tattoo

-- Macht Gänsehaut --

Szene aus Tattoo

Info über Tattoo (D 2002)

Regie: Robert Schwentke

Darsteller: August Diehl, Christian Redl, Nadeshda Brennicke, Johan Leysen, Monica Bleibtreu, Jasmin Schwiers

Inhalt: Zwei ungleiche Polizisten versuchen, hinter dunkle Geschäfte mit Menschenhaut zu kommen.

Kritik: Verwöhnung ist die kleine Schwester der Entmündigung. Weder denkt ein voller Bauch gern, noch wird er sich je auflehnen, es sei denn, man nähme ihm weg, was ihn voll macht. Was in Liebesbeziehungen und im Fernsehen so trefflich funktioniert - Verdummung durch Abnahme aller anstrengenden Pflichten -, beherzigt auch der Stechpalmenwald seit Urzeiten: um Joe Sixpack, den fettleibigen und bibelfesten Durchschnittsamerikaner, nicht mit fremden Bildern aus dem moralisch verlotterten Europa voller schlanker Menschen mit schlechten Gebissen und unrasierten Achseln zu verstören, werden ausländische Kinoerfolge routinemäßig auf heimischem Boden mit bekannten Schauspielern nachgedreht, was dem Film meist zum Schaden, dem Geldsäckel der Produzenten aber zur prallen Füllung gereicht.
Diese kuriose Praxis mutet erst dann verständlich an, wenn man mit Tattoo nachgerade ein europäisches Remake zweier amerikanischer Filme (The Silence of the Lambs und Se7en) gesehen hat: ein derart beängstigendes Szenario, wie es Robert Schwentkes Filmdebüt präsentiert, wirkt ungleich packender und intensiver, wenn es nicht einen Kontinent entfernt von unbekannten Fremdländern, sondern gleichsam direkt vor der eigenen Haustür durchlebt wird, in unser aller Großhauptstadt Berlin, von braven Polizeibeamten in den vertrauten, geschmacklosen Uniformen. Bei aller Begeisterung für die Schauplätze um die Ecke freilich übersieht man nur zu leicht, daß Schwentke und sein Team bisweilen auch nur mit Wasser kochen, mit frech aus kalifornischen Wasserhähnen abgezapftem Naß nämlich. Dazu später mehr.

Eine junge Frau stolpert über die Straße. Vielmehr wankt sie, da dort, wo früher ihr Rücken war, nur noch eine riesige, blutüberströmte Wunde klafft, die von der unglaublich kreativen Maske furios in Szene gesetzt wird. Es ist schwarze Nacht, und keiner der vereinzelten Autofahrer hält an, um ihr zu helfen. Einzig ein freundlicher Busfahrer bemerkt das Mädchen (leider etwas zu spät) und überfährt es, worauf sein Bus explodiert und der Filmtitel erscheint, getreu der Maxime, zuerst mit einem Erdbeben zu beginnen und sich dann langsam, aber sicher zu steigern.
August Diehl, in Ausstrahlung, Talent und Präsenz Edward Norton ebenbürtig, nur mit irritierend vielen Leberflecken gesprenkelt, weiß noch nichts davon, als er in einer beengten Disco zu den Klängen seiner herben Freundin, des DJs, im Drogenrausch tanzt. Wie schon in Blade, Romeo Must Die und The Terminator, um nur drei Beispiele zu nennen, ist es die Inszenierung des Tanztempels, die die Richtung des ganzen Films vorgibt, in jeglicher Hinsicht: suhlen sich hier Untote im Blut aus der Sprinkleranlage, nur um kurz darauf vom Mann mit der Klinge gerichtet zu werden, tanzen da dekadente Kriminelle in luxuriösem Ambiente und dort hedonistische Bürger mit schlechten Frisuren, die sich nicht mal an einem Muskelmann im speckigen Trenchcoat stören, der eine dicke Waffe zieht - TechNoir. In Tattoo nun stampfen die Leiber in nebliger Düsternis auf engstem Raum, aber doch immer voneinander isoliert, wie der gottgleiche Blick von oben auf unseren Helden nicht müde wird zu betonen. Eine Razzia macht dem Treiben ein Ende, und der Polizeischulabsolvent Schrader (Diehl) kann nur mit Glück entkommen, wobei er seine Jacke opfern muß.

Zur Massenvereidigung ist der arbeitsscheue Schrader wieder ausgeschlafen, und hätte ein mutmaßlich blinder Zuschauer bis dahin nicht gemerkt, daß Schwentkes Werk keine der üblichen kindergeburtstagsbunten Beziehungskomödien ist, spätestens hier wird es klar: in einem schummrigen Saal, einen bedrohlichen, riesengroßen Berliner Bären im Rücken, schwört ein dominanter Polizeipräsident seine Absolventen auf den Dienst ein wie ein menschenverachtender General sein Kanonenfutter.
Unter einem solchen Vorgesetzten kann wohl auch eine Figur wie Hauptkommissar Minks gedeihen, der vom bärigen Christian Redl so berückend präsent wie mimisch bewegend gegeben wird: der verbitterte, vierschrötige Polizist rennt der Erinnerung seiner seit zwei Jahren verschwundenen Tochter hinterher und scheut sich nicht, dafür den Polizeiapparat zu mißbrauchen und Schrader, von dem er sich Zugang zur Jugendszene erhofft, mit einem üblen, aber brillant gespielten Trick unter seine Führung zu beordern.

Zurück vom Besuch im Leichenschauhaus, in dem die immer brillantere Maske und Gustav-Peter Wöhler als köstlich lakonischer Pathologe ihre Meisterschaft zeigen, und einem Besuch in der Wohnung des zuvor erwähnten Mädchens, gibt Minks seinem neuen Partner den einzigen Hinweis, der sich in diesem ewig nächtlichen und dauerverregneten Berlin zu befolgen lohnt: er solle immer lebend nach Hause kommen. Wieviel Weisheit in diesen Worten liegt, offenbart sich kurz darauf, als das ungleiche Polizistenpaar, buchstäblich einem Fingerzeig folgend, auf einen makabren Privatfriedhof voller verstümmelter Leichen stößt, denen die Haut über die Ohren gezogen wurde. Ein hochgeheimer Liebhaberring handelt mit Tätowierungen, die mitunter auch am lebenden Objekt gewonnen werden - nach nur einer Stunde in Schwentkes betongrauem und menschenverachtendem Berlin verwundern auch derartige Auswüchse nicht mehr; in dieser Hauptstadt ist das Rot der Rosen, das die abscheulichen Blutbäder stilistisch genial vorwegnimmt, die einzige Farbe.

Bis auf das makellose Weiß der Rollkragenpullover der ebenso makellosen Galeristin Maya Kroner, einer Freundin der Verstorbenen und einer Expertin der Tätowierkunst. Die kühle Schönheit trägt ungerne Büstenhalter, steckt ihr blondes Haar zu einer adrett-strengen Frisur und wird von Nadeshda Brennicke so undurchschaubar wie erotisch (vulgo: ausdruckslos und nackt) gegeben, und wenn hier noch nicht die Alarmglocken des geschulten Kinogängers klingeln, als sähe man sich einem dicken "Knuddelbären" mit Dreitagebart gegenüber, so spätestens dann, wenn zwischen den verführerisch roten Lippen der Kunstfachfrau unablässig eine Kippe nach der anderen glimmt und Mayas wunderschöne Lungen ruiniert. Schrader übersieht die Warnhinweise jedoch, und der Zuschauer läuft Gefahr, es ihm gleich zu tun, allein aufgrund Mayas wunderbarer Szene im Regen, die nicht nur zu den Highlights des Films, sondern auch der deutschen Kinogeschichte zählt - wie die John Doe-artig mißlungene Verhaftung eines Hauptverdächtigen und Schraders endliche Begegnung mit Minks' Tochter Marie (Jasmin Schwiers so liebenswert wie verletzlich). Sanft klimpert die sonst hervorragend treibende Musik Martin Todsharows, und Jan Fehses puristische Kamera erlaubt sich ausnahmsweise ein oder zwei Lux mehr, während Marie, der im wahrsten Sinne des Wortes einzige Lichtblick im dunklen Moloch, erzählt, wie zuviel Liebe nur Haß hervorruft.

Wenn im kalten Herzen dieses neuen Deutschlands nicht einmal mehr ein Vater und seine Tochter friedvoll miteinander leben können, erscheint es nur folgerichtig, daß es auch niemand sonst kann: die blutigen Ereignisse überschlagen sich, und auch, wenn das Ende von Tattoo abgehackt, abgedroschen, überzogen, vorhersehbar und teilweise unlogisch scheint, lohnt es sich, bis zum Schluß auszuharren - inspirierte Nebendarsteller von Monica Bleibtreu über Ingo Naujoks bis zu Johan Leysen geben sich das Skalpell in die Hand und machen Schraders bittere Initiation in die Abgründe dieses seine Bewohner entmenschlichenden Berlins noch packender als die vorigen, nervenzerfetzenden neunzig Minuten. Tief in den Eingeweiden der Metropole schließlich kommt der junge Polizist ans Ende seines Falls, aber es ist, als hätten diese feucht wie ein Organismus dampfende Stadt und ihr wuchernder, wabernder, kriechender Bodensatz tätowierter, körpermodifizierter, vernarbter und perverser Drohnen Schrader verdaut, zersetzt und zerstört statt umgekehrt. Trotz gelegentlicher Kurzatmigkeit mit mehr als hoffnungsfroh stimmenden kohlschwarzen Ansätzen also - wären mehr Filme wie Tattoo und seine Überväter aus Übersee, wäre die wahre Welt als Vorlage nicht mehr schlecht genug.

****von 5 Sternen.

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