Kritik:
Verwöhnung
ist die kleine Schwester der Entmündigung. Weder denkt
ein voller Bauch gern, noch wird er sich je auflehnen, es
sei denn, man nähme ihm weg, was ihn voll macht. Was
in Liebesbeziehungen und im Fernsehen so trefflich
funktioniert - Verdummung durch Abnahme aller anstrengenden
Pflichten -, beherzigt auch der Stechpalmenwald seit
Urzeiten: um Joe Sixpack, den fettleibigen und bibelfesten
Durchschnittsamerikaner, nicht mit fremden Bildern aus dem
moralisch verlotterten Europa voller schlanker Menschen mit
schlechten Gebissen und unrasierten Achseln zu
verstören, werden ausländische Kinoerfolge
routinemäßig auf heimischem Boden mit bekannten
Schauspielern nachgedreht, was dem Film meist zum Schaden,
dem Geldsäckel der Produzenten aber zur prallen
Füllung gereicht.
Diese kuriose Praxis mutet erst dann verständlich an,
wenn man mit Tattoo nachgerade ein europäisches
Remake zweier amerikanischer Filme (The Silence of the
Lambs und Se7en) gesehen hat: ein derart
beängstigendes Szenario, wie es Robert Schwentkes
Filmdebüt präsentiert, wirkt ungleich packender
und intensiver, wenn es nicht einen Kontinent entfernt von
unbekannten Fremdländern, sondern gleichsam direkt vor
der eigenen Haustür durchlebt wird, in unser aller
Großhauptstadt Berlin, von braven Polizeibeamten in
den vertrauten, geschmacklosen Uniformen. Bei aller
Begeisterung für die Schauplätze um die Ecke
freilich übersieht man nur zu leicht, daß
Schwentke und sein Team bisweilen auch nur mit Wasser
kochen, mit frech aus kalifornischen Wasserhähnen
abgezapftem Naß nämlich. Dazu später
mehr.
Eine junge
Frau stolpert über die Straße. Vielmehr wankt
sie, da dort, wo früher ihr Rücken war, nur noch
eine riesige, blutüberströmte Wunde klafft, die
von der unglaublich kreativen Maske furios in Szene gesetzt
wird. Es ist schwarze Nacht, und keiner der vereinzelten
Autofahrer hält an, um ihr zu helfen. Einzig ein
freundlicher Busfahrer bemerkt das Mädchen (leider
etwas zu spät) und überfährt es, worauf sein
Bus explodiert und der Filmtitel erscheint, getreu der Maxime, zuerst mit einem Erdbeben zu beginnen und sich dann
langsam, aber sicher zu steigern.
August Diehl, in Ausstrahlung, Talent und Präsenz
Edward Norton ebenbürtig, nur mit irritierend vielen
Leberflecken gesprenkelt, weiß noch nichts davon, als
er in einer beengten Disco zu den Klängen seiner herben Freundin, des DJs, im Drogenrausch tanzt. Wie schon in
Blade, Romeo Must Die und The
Terminator, um nur drei Beispiele zu nennen, ist es die
Inszenierung des Tanztempels, die die Richtung des ganzen
Films vorgibt, in jeglicher Hinsicht: suhlen sich hier
Untote im Blut aus der Sprinkleranlage, nur um kurz darauf
vom Mann mit der Klinge gerichtet zu werden, tanzen da
dekadente Kriminelle in luxuriösem Ambiente und dort
hedonistische Bürger mit schlechten Frisuren, die sich
nicht mal an einem Muskelmann im speckigen Trenchcoat
stören, der eine dicke Waffe zieht - TechNoir. In
Tattoo nun stampfen die Leiber in nebliger
Düsternis auf engstem Raum, aber doch immer voneinander
isoliert, wie der gottgleiche Blick von oben auf unseren
Helden nicht müde wird zu betonen. Eine Razzia macht
dem Treiben ein Ende, und der Polizeischulabsolvent Schrader
(Diehl) kann nur mit Glück entkommen, wobei er seine
Jacke opfern muß.
Zur
Massenvereidigung ist der arbeitsscheue Schrader wieder
ausgeschlafen, und hätte ein mutmaßlich blinder
Zuschauer bis dahin nicht gemerkt, daß Schwentkes Werk
keine der üblichen kindergeburtstagsbunten
Beziehungskomödien ist, spätestens hier wird es
klar: in einem schummrigen Saal, einen bedrohlichen,
riesengroßen Berliner Bären im Rücken,
schwört ein dominanter Polizeipräsident seine
Absolventen auf den Dienst ein wie ein menschenverachtender
General sein Kanonenfutter.
Unter einem solchen Vorgesetzten kann wohl auch eine Figur
wie Hauptkommissar Minks gedeihen, der vom bärigen
Christian Redl so berückend präsent wie mimisch
bewegend gegeben wird: der verbitterte, vierschrötige
Polizist rennt der Erinnerung seiner seit zwei Jahren
verschwundenen Tochter hinterher und scheut sich nicht,
dafür den Polizeiapparat zu mißbrauchen und
Schrader, von dem er sich Zugang zur Jugendszene erhofft,
mit einem üblen, aber brillant gespielten Trick unter
seine Führung zu beordern.
Zurück
vom Besuch im Leichenschauhaus, in dem die immer brillantere
Maske und Gustav-Peter Wöhler als köstlich
lakonischer Pathologe ihre Meisterschaft zeigen, und einem
Besuch in der Wohnung des zuvor erwähnten
Mädchens, gibt Minks seinem neuen Partner den einzigen
Hinweis, der sich in diesem ewig nächtlichen und
dauerverregneten Berlin zu befolgen lohnt: er solle immer
lebend nach Hause kommen. Wieviel Weisheit in diesen Worten
liegt, offenbart sich kurz darauf, als das ungleiche
Polizistenpaar, buchstäblich einem
Fingerzeig folgend, auf einen makabren Privatfriedhof voller
verstümmelter Leichen stößt, denen die Haut
über die Ohren gezogen wurde. Ein hochgeheimer
Liebhaberring handelt mit Tätowierungen, die mitunter
auch am lebenden Objekt gewonnen werden - nach nur einer
Stunde in Schwentkes betongrauem und menschenverachtendem
Berlin verwundern auch derartige Auswüchse nicht mehr;
in dieser Hauptstadt ist das Rot der Rosen, das die
abscheulichen Blutbäder stilistisch genial
vorwegnimmt, die einzige Farbe.
Bis auf das
makellose Weiß der Rollkragenpullover der ebenso
makellosen Galeristin Maya Kroner, einer Freundin der
Verstorbenen und einer Expertin der Tätowierkunst. Die
kühle Schönheit trägt ungerne
Büstenhalter, steckt ihr blondes Haar zu einer adrett-strengen
Frisur und wird von Nadeshda Brennicke so undurchschaubar
wie erotisch (vulgo: ausdruckslos und nackt) gegeben, und
wenn hier noch nicht die Alarmglocken des geschulten
Kinogängers klingeln, als sähe man sich einem
dicken "Knuddelbären" mit Dreitagebart gegenüber, so
spätestens dann, wenn zwischen den verführerisch
roten Lippen der Kunstfachfrau unablässig eine Kippe
nach der anderen glimmt und Mayas wunderschöne Lungen
ruiniert. Schrader übersieht die Warnhinweise jedoch,
und der Zuschauer läuft Gefahr, es ihm gleich zu tun,
allein aufgrund Mayas wunderbarer Szene im Regen, die nicht
nur zu den Highlights des Films, sondern auch der deutschen
Kinogeschichte zählt - wie die John Doe-artig
mißlungene Verhaftung eines Hauptverdächtigen und
Schraders endliche Begegnung mit Minks' Tochter Marie
(Jasmin Schwiers so liebenswert wie verletzlich). Sanft
klimpert die sonst hervorragend treibende Musik Martin
Todsharows, und Jan Fehses puristische Kamera erlaubt sich
ausnahmsweise ein oder zwei Lux mehr, während Marie,
der im wahrsten Sinne des Wortes einzige Lichtblick im
dunklen Moloch, erzählt, wie zuviel Liebe nur Haß
hervorruft.
Wenn im
kalten Herzen dieses neuen Deutschlands nicht einmal mehr
ein Vater und seine Tochter friedvoll miteinander leben
können, erscheint es nur folgerichtig, daß es
auch niemand sonst kann: die blutigen Ereignisse
überschlagen sich, und auch, wenn das Ende von
Tattoo abgehackt, abgedroschen, überzogen,
vorhersehbar und teilweise unlogisch scheint, lohnt es sich,
bis zum Schluß auszuharren - inspirierte
Nebendarsteller von Monica Bleibtreu über Ingo Naujoks
bis zu Johan Leysen geben sich das Skalpell in die Hand und
machen Schraders bittere Initiation in die Abgründe dieses seine Bewohner
entmenschlichenden Berlins noch packender als die vorigen, nervenzerfetzenden neunzig Minuten. Tief
in den Eingeweiden der Metropole schließlich kommt der
junge Polizist ans Ende seines Falls, aber es ist, als
hätten diese feucht wie ein Organismus dampfende Stadt und ihr wuchernder, wabernder, kriechender Bodensatz
tätowierter, körpermodifizierter, vernarbter und
perverser Drohnen Schrader verdaut, zersetzt und zerstört statt
umgekehrt. Trotz gelegentlicher Kurzatmigkeit mit mehr als hoffnungsfroh stimmenden kohlschwarzen Ansätzen also -
wären mehr Filme wie Tattoo und seine
Überväter aus Übersee, wäre die wahre
Welt als Vorlage nicht mehr schlecht genug.
von
5 Sternen.
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