Kritik:
Rassismus gibt es
nicht nur in unserem Wintermärchen Deutschland, wo Wind
und Regen grimm über weite Felder fegen, sondern auch
im sonnigen Kalifornien, wo die einzige Sorge der Menschen
das große Erdbeben ist, das zumindest im Jahr 2002 noch immer aussteht.
Obwohl ein immer größerer Teil der
US-Bevölkerung "schwarz", lateinamerikanisch oder
asiatisch ist, finden sich auf der großen Leinwand und
bei den einschlägigen Preisverleihungen weiterhin nur
die altbekannten "weißen" Gesichter, und Superstar
wird nur, wer ein entsprechend WASP-kompatibles Aussehen
vorweisen kann. Auch im 21. Jahrhundert wartet der geneigte
Zuschauer noch auf den ersten echten weiblichen "schwarzen"
Topstar, der in einer Gehaltsskala mit Leuten wie Julia
Roberts und Meg Ryan steht.
Zum Glück sind die USA trotz allem noch immer zu
Überraschungen fähig, und so findet sich heuer
tatsächlich eine junge (Pseudo-)Lateinamerikanerin an der Spitze
der Kino- und Musikcharts wieder. Jennifer Lopez bezaubert
nicht nur mit ihren aufregenden Kurven (die auch in
vorliegendem Film ausgiebigst mit hautengen Kostümen
und einem etwas gezwungenen Tanga-Auftritt zelebriert werden) und ihrem
regelmäßig-schönen Gesicht, sondern beweist
mit ihrem Erfolg auch, daß es selbst in der
verkrusteten Filmbranche Bewegung geben kann.
Leider kann
die gute Jennifer dafür seltsamerweise - und damit
kommen wir zu Tarsem Singhs Debütfilm The Cell -
nicht besonders gut schauspielern (was bei ihrem Aussehen
den meisten Filmproduzenten und vielen seltenen
Kinogängern herzlich egal sein dürfte). Dem etwas
versierteren Besucher könnte Lopez'
linkisch-ungenau-wächserne Mimik den Filmgenuß
durchaus vergällen, zumal sie, um wenigstens etwas
Leistung bringen zu können, erfahrenere Regisseure zu
brauchen scheint, die sie fordern und fördern. Tarsem
Singh aber ist ein
Debütant, der zwar schon Werbespots und Musikvideos
gedreht hat, mit einem ganzen Film aber überfordert war. Mehr als durchschnittliche Leistungen konnte er
aus seinem Cast nicht herausholen, obwohl ihm mit Vince
"Norman" Vaughn und dem unvergleichlichen Vincent
D'Onofrio zwei hochkarätige Darsteller zur
Verfügung standen. Aber Vaughn wirkt nur wie ein narkotisiertes Fox-Mulder-Abziehbild, und D'Onofrio, aufgrund
seiner früheren, exaltierten Rollen eigentlich als
verrückter Mörder prädestiniert, schlurft, obwohl sein Charakter so schräg wie kaum ein anderer Filmbösewicht ist, so lustlos-depressiv durch die Welt, als würde er in zwei
Tagen nach Parris Island eingezogen. Wo ist die skrupellose
Gefährlichkeit aus Strange Days oder die
fremdinduzierte Verrücktheit aus Men in Black
geblieben?
Viel kann
aber selbst ein D'Onofrio nicht aus dem Drehbuch machen, das
über holzschnittartig angedeutete Charaktere, plakativ-stumpfe
Dialoge, eins-zwei-drei-Trivialpsychologie, klischeehafte
Situationen, konfuse Schnitte und logische Löcher in
der Größe von Frau Lopez' Hintern (womit dieser
obligatorische Scherz auch erledigt wäre...) nicht
hinauskommt: so hat ein angeblicher Albinohund blaue Augen,
und Lopez kann wunderbarerweise von innen den Code
einer Sicherheitsschleuse ändern, was ungefähr so
sinnvoll ist, wie Strafgefangenen die Möglichkeit zu
geben, vom Inneren ihrer Zelle aus das Zellenschloß zu
wechseln. Auch mangelt es an einem richtigen Showdown
(stattdessen führt ein beiläufiger Zufall zum
Happy-End), die Nebendarsteller sind mehr oder weniger Staffage, und
Jennifer Lopez' Lipgloss-Verbrauch übertrifft manchmal
sogar den von Angelina Jolie und Melanie Griffith zusammen -
andere, zwischenmenschlichere Chemie als die in ihrer
Schminke gibt es aber dennoch in keiner Szene.
Gäbe
es nur die Szenen in der realen Welt, wäre The
Cell fast ein Fall für den Gelben
Sack. Aber zum Glück hat sich Singh zusammen mit seinem
Autor Mark Protosevich und seinem Kameramann Paul Laufer auf
seine Videoclip-Qualitäten besonnen und fabelhafte
(Alp-)traumwelten ersonnen, in denen eine Überraschung
auf die nächste folgt. Angefangen mit der Wüste
Namibias, in der Lopez als Fast-Engel in einem weißen
Kleid einen kleinen, komatösen Jungen psychisch
betreut, ist jede Szene in den Köpfen der Protagonisten
eine audiovisuelle Kreativitätsexplosion, die den
Rahmen der Leinwand zu sprengen droht. Nach der schlichten
Kargheit der Wüste, die dennoch in wunderbare Bilder
verpackt ist, landet Lopez in D'Onofrios Gedanken, die sich
mal wie eine Mischung aus Hieronymus Bosch und M. C. Escher,
mal wie Buffalo Bills Wohnung aus The Silence of the
Lambs und mal wie ein orientalischer Festsaal aus
Tausendundeiner Nacht, aber immer äußerst
aufregend und atemberaubend ausnehmen. Kamera, Musik, Maske
und Kostümabteilung übertreffen sich hier
gegenseitig im Bestreben, immer neue, schillernde und
berückende Szenarien zu erschaffen, was ihnen meistens
auch hervorragend gelingt und einen echten Grund darstellt,
sich den 110 Minuten langen, aber trotzdem kurzweiligen
The Cell anzusehen; auch noch so geschliffene Worte
können diese Bilder nicht annähernd beschreiben.
Einzig Vaughns Eintritt in D'Onofrios Kopf wirkt wie eine Demo
eines ultrateuren Graphikprogramms, und Lopez' Gedanken sind
so kitschig-kirschblütenrosa, daß ich jeden
Moment darauf gewartet habe, daß "Sakura, Sakura"
ertönt.
Lopez' Gedanken
sind es auch, die mich gegen Ende des Films, nachdem die
furiosen Kopfszenen mich mit dem nur durchschnittlichen Rest
des Films versöhnt hatten, doch noch stutzig gemacht
haben. In einer hemmungslos von kryptoreligiösem
Pietà-Kitsch durchtränkten Einstellung tut sie
nach einer recht gewalttätigen, teilweise aus Fight Club
geklauten Konfrontation etwas, das in Verbindung mit zuvor
von Vaughns Charakter gemachten Äußerungen den
Anschein erweckt, als wolle Tarsem Singh einen Beitrag zur
Sterbehilfe-Debatte leisten. Was solche Aussagen in einem
ansonsten von gesellschaftspolitischen Positionen weitgehend
freien Film zu suchen haben, ist schleierhaft und macht
The Cell nur noch zwiespältiger. Denn den
fulminanten Gedankenwelten und der visuellen
Originalität des Filmes stehen somit nicht nur die eher
durchschaubaren und mäßig gespielten
"Real"szenen, sondern auch die fragwürdige
Schlußaussage gegenüber. Einen Besuch ist Singhs
Film aber auf jeden Fall wert, allein, um mit eigenen Augen
zu sehen, daß eine riesige Multiplex-Leinwand und ein
perfektes Soundsystem doch für mehr als hirnlose
Mainstream-Actionkracher gut sein können.
1/2 von 5 Sternen.
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