Kritik:
Es gibt Werke, bei
denen jede Kritik und jeder Kommentar verstummen und jede
Feder schweigen sollte, so leuchtend ist ihre Magie, so
regenbogenfarbig schillernd ihr Anblick, so tief ihre
Aussage. Aber zu Boys Don't Cry soll und darf
nicht geschwiegen werden, denn viel zu wichtig ist, was
dieser Film vermittelt: Toleranz und Achtung vor der
Menschenwürde.
Ich habe
diese Kritik, Kenner haben es bereits erkannt, mit einem
Zitat eingeleitet, einem Zitat aus der Inschrift am
Fuße der Freiheitsstatue, die beside the golden
door die Einwanderer in der neuen Welt willkommen
heißt. Immer wieder fragte ich mich im Kino, was aus
diesen Worten, was aus diesem Land geworden ist. Was ist das
für ein Land, in dem Kinder ab 16 Auto fahren, also
sich und andere potentiell umbringen dürfen? Was ist
das für ein Land, in dem viele mit 16 heiraten und mit
17 schon Kinder kriegen, also eine Familie gründen
dürfen? Und was ist das für ein Land, in dem man
dennoch - und drakonisch verfolgt - erst ab dem unglaublichen
Alter von 21 Jahren seine erste legale Dose Billigbier
zischen kann? Kimberly Peirce bringt mit ihrer sensiblen
Regie, der in den Zeitrafferszenen zwar etwas
prätentiösen, aber ansonsten hervorragend
einfühlsamen Kamera und der passenden Country-Musik
gefühlvoll die dunkelste amerikanische Provinz zum
Leben, dort, wo die Straßen weit und die Gedanken eng
sind, dort, wo in schummrigen Truck-Stop-Kneipen verfettete
"Cowboys" ihre Kehle mit Bourbon und Bier ölen. Gefilmt
ist das Ganze in wohltuend warmen, unaufdringlichen
Tönen, fern des grellen Mainstreams und des stupiden
Overactings.
Mittendrin: Hilary
Swank als "Junge", erst 25 Jahre alt und dennoch eine
Entdeckung, so hervorragend meistert sie selbst schwierigste
und unangenehmste Passagen. Und dazwischen wird sie fast
wirklich zu einem Jungen, zu Brandon Teena, einem vielleicht
für einen Mann etwas zu feinfühligen Menschen,
immer überzeugend, glaubwürdig und
erschütternd realitätsnah. Teena Brandon/Brandon
Teena kommt mit ihrem Leben nicht zurecht, weiß nicht,
ob sie Mann oder Frau ist, klaut Autos... Zufällig
lernt sie Lana aus der Provinz kennen und verliebt sich in
sie. Lana ist Swanks wahrhaft kongeniale und auf wahnsinnig
natürliche Weise attraktive Partnerin Chloë
Sevigny. Sich allein den Namen dieser Indie-Schönheit
auf der Zunge zergehen zu lassen ist schon mehr wert als
zehn Jerry-Bruckheimer-Filme zusammen. Die Chemie zwischen
den beiden ist so gut, so gelungen, so prickelnd, daß es Peirce mehr als einfach fällt, die Liebe Lanas und Brandons zueinander so genau beobachtend, erschütternd
und bewegend nahezubringen, ohne jemals kitschig oder
übertrieben zu sein, daß man ganz in der
Atmosphäre des Films aufgeht und ein Teil von ihm
wird.
So erleide
ich körperliche Schmerzen, als Lanas
Knastvögel-Freunde Brandons Tarnung aufdecken, sie
zuerst aus dem Haus werfen und danach in einer ungewohnt
heftigen Szene vergewaltigen. Zorn steigt auf, als Lanas
Mutter Brandon verstößt und der feiste und
perverse Polizei-Officer zwanghaft nachbohrt. Aber es gibt
auch positive Beispiele: selbstlos nehmen Lanas Freundinnen
Teena wieder auf, und noch einmal können die beiden
zusammenkommen. Aber Teenas Kumpel sagte es bereits am
Anfang des Films "Da knüpfen sie Schwule auf": die
Knastbrüder kommen mit einer Pistole wieder, und so
endet die wahre Geschichte der Teena Brandon in der
Tragödie.
Am Ende,
natürlich, in Texteinblendungen, was mit den wirklichen
Menschen danach geschah: der Mörder in der
Todeszelle, natürlich, Lana verläßt das
Kaff, natürlich; aber, und das ist, was diesen Film
auch nach seinem Ende noch kraftvoller, noch bewegender,
noch eindrücklicher macht, "Sie brachte ein Kind zur
Welt und kehrte nach Falls City zurück, um es
dort aufzuziehen". Jede noch vorhandene Hoffnung, jede noch
vermutete Wendung zu einem glücklichen Dasein Lanas
bläst dieser Satz für immer weg, und zurück
bleibt nur eine tiefe Erschütterung, der Wunsch nach
der Abwendbarkeit des Schicksals und die inständige
Hoffnung, es in unserem Land nie (mehr) so weit kommen zu
lassen. Aber ich sehe so schwarz wie Boys Don't
Cry.
1/2 von 5 Sternen.
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